Brüder Grimm und ihre Märchen
Die Brüder Grimm und ihre Märchen©
Ein Text von Markus Herzig
Wer Märchen sagt, denkt meistens an die Märchen der Brüder Grimm, an Aschenputtel, Rapunzel oder Rumpelstilzchen, also an die sogenannten Zaubermärchen in der über 211 Texte umfassenden Sammlung der "Kinder- und Hausmärchen". Wenn von "Texten" die Rede ist, dann soll damit gesagt werden, dass in der Märchensammlung sehr unterschiedliche Märchentexte versammelt sind. Die jedem Kind geläufigen machen dabei nur ein gutes Drittel aus. Dazu kommen jede Menge zu sogenannten Schwankmärchen verarbeitete Anekdoten, sowie zu sogenannten Weisheitsmärchen verarbeitete Parabeln und Fabeln. Nur für die Zaubermärchen gilt aber die Kurzdefinition, die der bekannte Märchenforscher und Germanist, Heinz Rölleke, so formuliert: "Ein Märchen ist eine kurze bemerkenswerte Geschichte, die ein Wunder enthält, über das sich im Märchen niemand wundert." Ein anderer Grimmforscher hat einmal vorgeschlagen, dass Märchen das sind, was die Brüder Grimm aufgezeichnet und geschrieben haben. Damit würdigt er die Lebensleistung von Jacob und Wilhelm Grimm, die beide 1806 im noch jugendlichen Alter von 21 bzw. 20 Jahren mit dem Sammeln von Märchen begonnen hatten und auch nach der ersten Veröffentlichung 1812 das Sammeln und Bearbeiten 45 Jahre (!) fortsetzten bis zum Tode Wilhelms im Jahr 1857.
Dabei war es vor allem das Werk Wilhelms gewesen, denn schon früh, 1819, als die zweite Auflage herauskam, vereinbarten beide Brüder eine Arbeitsteilung. Dass der dichterisch begabte Wilhelm die Märchen übernahm, sollte dabei zum Glücksfall für die weitere Entwicklung der neuen Gattung werden. Denn bis dahin waren ihre veröffentlichten Märchen alles andere als populär, ökonomisch gesehen ein echter Ladenhüter. Niemand wollte die eher drögen Texte mit den ausführlichen Anmerkungen über die Herkunft der Texte lesen, außer einem kleinen Kreis interessierter Erwachsener, denen es wie den Brüdern Grimm um den Erhalt der deutschen "Volkspoesie" ging.
Das war am Anfang des 19. Jahrhunderts, als Napoleon in ganz Europa herrschte, ein großes Thema. Die Romantiker besannen sich auf die "altdeutschen Denkmäler", also Lieder, Gedichte und eben mündliche Stoffe, Sagen und Märchen, die es zu erhalten galt. Den Anfang machten Clemens Brentano und Achim von Arnim, die "Des Knaben Wunderhorn" herausgaben. Über ihren Hochschullehrer und Förderer Carl von Savigny kamen die beiden Brüder in Kontakt mit den Romantikern und fingen sogleich Feuer für deren Vorhaben. Jacob als der ältere der beiden Brüder hatte zuerst bei Savigny Jura studiert, aber vor allem gelernt Rechtswissenschaften als historische Disziplin zu begreifen. Von da war es nur ein kleiner Schritt zum Sammeln anderer Texte, und das waren die späteren Märchen. Weil er aber einen Brotberuf brauchte, um den eigenen Neigungen nachgehen zu können, nahm er das erste Angebot einer Bibliothekarsstelle am hessischen Hof an und nahm seinen Bruder gleich mit. So wurde fortgesetzt, was bereits im Kindesalter begann: Jacob und Wilhelm Grimm verband eine lebenslange Arbeits- und Wohngemeinschaft, die ihres gleichen nicht kennt. Das lag nicht nur an den gleichen Interessen, sondern war auch in beider Kindheit begründet. Nach dem frühen Tod des Vaters konnten sowohl Jacob als auch Wilhelm nur deshalb eine weiterführende Schulbildung erhalten, weil eine Tante mit Geld aushalf. Beide mussten erheblich mehr leisten als andere, worunter Wilhelms Gesundheit Schaden litt. Trotzdem, und vielleicht weil sie stets zusammen hielten, gelang beiden eine Karriere, die schließlich zur Berufung als Professoren in Göttingen führte. Während Jacob zeitlebens Junggeselle blieb, heiratete Wilhelm 1825 mit 39 Jahren, was aber nicht viel am Lebensstil der Brüder änderte, die weiterhin zusammen leben – für Jacob nun mit Familienanhang. Nach einem Karriereknick 1837, als sie gegen den Verfassungsbruch ihres Landesherrn protestierten ("Die Göttinger Sieben"), übersiedelten die inzwischen berühmt gewordenen Gelehrten 1840 nach Berlin, wo sie bis zuletzt ihren Forschungen nachgehen konnten.
Doch wie wurden die "Kinder- und Hausmärchen" doch noch ein Erfolg, ja zu dem nach der Bibel dem weltweit bekanntesten Buch? Der Durchbruch kam 1825, als Wilhelm Grimm 50 der bekanntesten Märchen in einer "kleinen Ausgabe" veröffentlichte. Die Anregung kam aus England, wo eine Auswahlübersetzung Grimm´scher Märchen schnell Verbreitung fand. Diese "Kleine Ausgabe" war von Beginn weg ein "Renner", später auch die "große Ausgabe" mit allen Texten. Die "bürgerliche Familie" war inzwischen verbreitet und suchte nach geeigneter Erziehungsliteratur, die unterhaltsam und pädagogisch wertvoll sein sollte. Diese Funktion übernahmen die Märchen in dem Maße, wie sie den heute typischen "Märchenton" annahmen. Das war das Werk Wilhelms, der von Ausgabe zu Ausgabe nicht nur neue Märchen aufnahm, sondern an den bisherigen stilistisch weiter feilte, manchmal mehr, manchmal weniger. So lesen sich die Märchen in der "Ausgabe letzter Hand" von 1857 ganz anders, poetischer meist, als die der Erstausgabe 45 Jahre früher. Aus erzählten Märchen und literarischen Texten waren bis heute gültige Buchmärchen geworden.